Leseprobe: TROCKENEIS

Vorsichtig bahnte sich im Morgengrauen ein Mann seinen Weg durch das Dickicht. Der Boden war morastig, niedrige, oft gebrochene Äste waren von schweren Kletterpflanzen überwuchert. Hier und da gab es einzelne Tümpel, teils Reste vom letzten Hochwasser, teils nach oben gedrücktes Grundwasser. Ein alter, fast verlandeter Flussarm zwang den Mann für einige Meter auf höheres Gelände, wo niedrige Ulmen von uralten, mitunter durch Sturm und Blitzeinschlag geborstenen Eschen überragt wurden. Das Unterholz war hier nicht ganz so dicht, und er konnte ein wenig schneller gehen. Er streifte Reste klebriger Ranken von seiner groben Cordhose ab und schlurfte im trockenen Laub, um den schweren Schlamm von seinen Gummistiefeln zu wischen. Kurz hinter dem Altwasser suchte er erneut einen Weg in die dichte Weichholzaue, denn sein Ziel lag im breiten Schilfgürtel, der die Flussbiegung säumte. Er blieb mit seiner Umhängetasche im Gesträuch hängen und riss ungeduldig daran, achtete aber darauf, dass ihm die schwere Armeepistole, die er in der Tasche bei sich trug, dabei nicht herausfiel.
Vor seinen Augen tat sich nun ein grandioser Anblick auf: Zwischen seinem Standort und dem Lechufer lag eine weite Schilf- und Röhrichtfläche mit zahlreichen gelben Schwertlilien am Rand. Dort standen drei Graureiher in der Sonne, nahezu bewegungslos. Die Luft war vom Sirren und Brummen der Insekten und dem vereinzelten "Più-più" eines Flussregenpfeifers erfüllt.
Er wischte einen Mückenschwarm zur Seite, ein sinnloses Unterfangen. Er wollte sich auch nicht durch zu heftige Bewegungen verraten und damit die Vögel verscheuchen. Libellen tanzten auf dem Wasser, und er setzte seinen Feldstecher vor die Augen, um sie besser beobachten zu können. Die Biester sind verdammt schnell, dachte er, als sie immer wieder aus seinem Blickfeld verschwanden.
"Verdammt!" Er fuhr herum, als er in einiger Entfernung hinter sich ein Motorengeräusch vernahm. Die Reiher erhoben sich mit majestätischem Flügelschlag in die Luft.
Der Mann folgte dem Motorengeräusch. Da musste wieder jemand zu den alten Lagerhallen am Rand des Gewerbegebiets unterwegs sein, die seit dem großen Hochwasser vor zehn Jahren vor sich hin rotteten. Statt die Gebäude einzureißen, hatte man sie einfach umzäunt und ihrem Schicksal überlassen – wahrscheinlich fürchtete man eine teure Bodensanierung, falls man da Altlasten entdeckte.
Er musste ein Brennnesselgestrüpp durchqueren, wenn er den Zaun erreichen wollte. Zum Glück trug er die Gummistiefel, die bis knapp unter die Knie der Cordhose reichten, da kam nicts durch. Schließlich erreichte er den Zaun, der von dichten Rankengewächsen überwuchert war. Er drückte unter protestierendem Gezeter der winzigen Teichrohrsänger, die hier lebten, mit beiden Händen das Lianengewirr aus Clematis und wildem Hopfen auseinander und hatte den Zaun vor sich, der an mehreren Stellen unter seiner Last bis fast auf den Boden heruntergedrückt war.
Von hier aus hatte er einen Blick auf das weitläufige Grundstück mit dem ehemaligen Fabrikgebäude und den verrotteten Hallen. Diese Stelle war ein idealer Beobachtungsposten. Der Mann nahm den Feldstecher und suchte das Gelände ab. Schließlich entdeckte er den Lieferwagen – es musste derselbe sein, den er schon ein paar Mal in der Nacht beobachtet hatte. Jetzt erkannte er, dass das Fahrzeug dunkelblau war, vermutlich ein älterer Ford Transit. Er hatte den Wagen bisher für schwarz gehalten, weil er ihn nie bei vollem Tageslicht beobachtet hatte. Die Inschrift auf der Fahrertür konnte er trotz Fernglas nicht lesen. Der Wagen stand vor einem verrosteten Rolltor, das jetzt zur Hälfte hochgeschoben war. Kein Mensch war zu sehen.
Er arbeitete sich dicht am Zaun entlang unter den Ranken hindurch. Vielleicht konnte er herausfinden, wie der Wagen auf das Gelände kam. Offiziell gab es keine Zufahrt zu diesem Bereich mehr, alles hatte sich die Natur zurückerobert. Im Osten, woher der Wagen immer gekommen war, gab es als Begrenzung einen schnell fließenden Bach, einen so genannten Feldgießer, den man künstlich angelegt hatte, um bei Hochwasser die Fluten aus dem Lech in umliegende alte Flussarme und die Auffangflächen im Auwald zu lenken. Die Bäume hier, Erlen, Eschen und Silberweiden, hielten eine normale Frühjahrsflut aus, sie konnten bis zu einem halben Jahr im Wasser stehen, ohne dass sie faulten.
Der Zaun war an einigen Stellen schon völlig verwittert, teilweise eingestürzt. Der Mann hätte sich einfach auf das Gelände vorarbeiten können, hatte aber Angst, entdeckt zu werden, weil dort auf der rissigen Asphaltfläche der Pflanzenbewuchs weniger dicht war und zumeist nur aus niedrigen Birken, Nesseln, Gräsern und giftig verfärbtem Storchschnabel bestand. Er hielt sich an die Zaunlinie und hoffte, so die Stelle zu entdecken, an der der Wagen in diesen Bereich gekommen war. Eine Brücke gab es am Bach nämlich nicht ehr, die hatte das Hochwasser damals mitgerissen. Die anderen Grundstücke des angrenzenden Gewerbegebiets, das sich nach Norden hin ausdehnte, waren fest umzäunt, so dass der Wagen nicht von dort gekommen sein konnte.
Drüben bewegte sich jetzt etwas. Er sah durch sein Fernglas einen Mann einsteigen, konnte sein Gesicht aber nicht sehen. Der Motor wurde angelassen und der Mann mit dem Feldstecher wollte sich beeilen, war aber plötzlich von einem Schwarm widerlicher Schmeißfliegen umgeben, die ihn heftig umschwirrten. In der Luft lag ein fauliger und zugleich süßlicher Gestank, der ihn an das Schinkenbrot erinnerte, das er vor einiger Zeit in seiner Hütte vergessen hatte. Er wollte den Fliegen entkommen, blieb dann aber abrupt stehen.
Vor ihm lag etwas Totes. In der Größe wie ein Mensch, aber nicht mehr zu erkennen. Verwesender, von schwarzblauen Brummern besetzter Fleischbrei, überall weiß durchsetzt von wimmelnden Maden, ein zusammengedrückter Brustkorb, kein Kopf, keine Gliedmaßen.
Er drehte sich um und erbrach. In der Ferne hörte er den Wagen davonfahren.
Verdammt, dachte er. Was sollte er jetzt tun? Wenn er die Polizei informierte, gäbe das eine Katastrophe. Er stellte sich vor, wie Männer in weißen Schutzanzügen durch das Gelände stapften, Gestrüpp niederrissen, um bessere Sicht zu haben, seltene Gräser und Kräuter umknickten, Absperrbänder großzügig verteilten und mit ihren Sprechfunkgeräten Lärm machten, der bis zur Hauptstraße zu hören war. Wenn es um eine Leiche ging, interessierten die sich nicht im Geringsten dafür, was Naturschutz bedeutete. Dabei nisteten gerade jetzt noch einige Bodenbrüter. Wenn die vertrieben würden, kämen sie niemals wieder, zumal anschließend das Gelände ja kaum wiederzuerkennen sein würde. Er beschloss, den Fund zunächst für sich zu behalten und mindestens bis zum Ende der Brutzeit zu warten, vielleicht sogar bis zum Spätherbst. Wer konnte ihm denn nachweisen, dass er den Fund heute gemacht hatte und nicht erst viel später?
Eine Leiche war nun mal tot. Die lief ja nicht weg.

*

Es herrschte am Abend viel Betrieb im "Nordpol". Im Nebenzimmer hatten sich seit Mittag die Überbleibsel einer Beerdigungsgesellschaft festgesetzt, fünf Männer, die sich gegenseitig mit Runden von Bier und Kognak abfüllten und dabei die Grundlagen für beginnende Erbstreitigkeiten ausloteten.
Der Raum wurde häufig von Trauergesellschaften genutzt, der Nordfriedhof lag ja gleich nebenan, vom Biergarten nur durch eine Straße und einen schmalen Streifen Parkplätze getrennt. Eine sichere Einnahmequelle.
Um die Tische im Nebenraum kümmerte sich Nina, eine Aushilfe, aber Roland Findeisen hatte hinter der Theke allerhand zu tun, denn an drei Tischen saßen Gäste zum Abendessen, und am großen Achtertisch in der Nische drängten sich zwölf Leute aus dem nahen Studentenwohnheim, das letztes Jahr in einem ehemaligen Ofengebäude auf dem Gelände des stillgelegten Gaswerks entstanden war. Die baurechtlichen Streitigkeiten hatten fünf Jahre gedauert, und um ein Haar wären die Zuschüsse der bayerischen Staatsregierung verfallen.
Tessa bediente und musste immer wieder an diesen Tisch, denn Stammgast Anton Grigoleit saß zwischen den jungen Leuten und diskutierte mit ihnen. Es waren bereits mehrere Runden Bier auf seine Rechnung gegangen.
"Möchte mal wissen, woher der so viel Geld hat", sagte Tessa Pietrasz, als sie eine neue Bestellung in die Kasse tippte. "Als Rentner kann der doch gar nicht so viel locker sitzen haben."
"Wenn er wirklich Stasi-Offizier war, bekommt er vielleicht vom Staat eine gute Pension", meinte Rolli und hielt einen Glaskrug nach dem anderen unter den Zapfhahn. "Außerdem gehen gewisse Gerüchte um, dass er trotz seiner kommunistischen Vergangenheit gleich nach der Wende ein Vermögen mit Grundstücksgeschäften in der Leipziger Innenstadt gemacht hat und sich dort nicht mehr blicken lassen kann. Soll damals in die Schneider-Affäre verwickelt gewesen sein, doch nachweisen konnte man ihm das nicht. Aber psst! Ich habe nichts gesagt. Man hört halt nur so einiges."
"Dann ist das ja Geldwäsche, wenn der hier eine Runde nach der anderen schmeißt."
"Wissen wir das?" Rolli stellte ihr die gefüllten Gläser auf das Tablett.
Tessa brachte sie an den Tisch, verteilte die Gläser und lauschte dabei dem Gespräch. Tessa hätte sich am liebsten in die Runde gesetzt und Feierabend gemacht. Aber jetzt winkte einer der anderen Gäste sie heran, sie nahm eine neue Bestellung auf und kehrte an den Tresen zurück. "Noch zwei Weißwein für Tisch zwei."
"Hatten die den Pinot Grigio oder ..."
"Den badischen."
"Der geht wirklich gut, hätte ich nicht gedacht." Rolli bückte sich, um die Flasche Burg Röttelner Gutedel aus dem Kühlfach zu holen. Ein Wein, den er selbst gerne trank.. Rolli schenkte großzügig ein, wie immer eine halbe Fingerbreite über dem Eichstrich. Er sah zu dem gut gekleideten Paar hinüber – die hatten das Seewolffilet mit grünem Spargel gehabt, eines der teuersten Gerichte auf der Karte, und saßen jetzt bei Panna Cotta mit Himbeersoße und frischen Früchten. Solche Kunden, die nicht auf den Geldbeutel achten mussten und gute Küche schätzten, könnte er hier mehr gebrauchen. Sein gastronomisches Konzept, eine gewöhnliche Nachbarschaftskneipe mit guter Küche zu kombinieren, ging auf – mit wechselnden Musikrichtungen vom CD-Player schuf er separate "Zeitfenster" für unterschiedliche Gäste zu jeweils verschiedenen Tageszeiten, so dass immer gut zu tun war. Nachbarschaftsgäste, Studenten, Beerdigungskunden, Rentner und gehobenes Publikum schlossen einander nicht aus. Sein Vater hatte dieses Konzept als hirnverbrannt bezeichnet, aber es schien aufzugehen, und mittlerweile freute Findeisen senior sich über die steigenden Einnahmen.
Rolli kannte den Mann, der mit einer hübschen Halbasiatin drüben am kleinen Tisch beim Fenster saß, wo Tessa jetzt den Wein servierte. Es war Sigbert Sonnberger, der verschiedene Restaurants in der Stadt mit so exotischer Tiefkühlkost wie Krokodil- oder Straußensteaks belieferte. Er war auch mit dem "Nordpol" im Geschäft, aber Giovanni Rosetti, Rollis Koch, weigerte sich, derlei exotische Spielereien auf die Karte zu setzen. Nur wenn zweimal im Jahr Fischwoche war, kamen aus Sonnbergers Angebot Tilapia und Bangus vom südchinesischen Meer auf den Tisch.
Sonnberger schien seiner gut aussehenden, extravagant gekleideten Begleiterin nur die halbe Aufmerksamkeit zu schenken. Er saß weit zurückgelehnt, kippelte den Stuhl sogar leicht, als er ihr jetzt beiläufig zuprostete und an seinem Wein nippte. Hin und wieder schielte er zu den Studenten hinüber, als ob er ihren Gesprächen lauschte.
Tessa stützte sich auf den Tresen. "Ich bin kaputt", sagte sie zu Rolli. "Tisch vier zahlt gleich, dann wird's zum Glück etwas ruhiger."
"Du kannst danach eine Pause machen", schlug Rolli vor. "Ich gehe nur rasch nach oben, um nach meinem alten Herrn zu sehen, dann helfe ich Nina, die letzten Beerdigungsgäste nach draußen zu komplimentieren. Nina hat mitbekommen, dass der fleißigste Schluckspecht von denen noch mit dem Auto fahren will. Dem muss ich noch die Autoschlüssel abnehmen. Oder willst du das übernehmen? Du bist bei sowas erfolgreicher als ich."
"Klar, mach ich."
"Dann könntest du auch anschließend einfach früher Feierabend machen. Ich schaffe den Rest schon."
Tessa zuckte mit den Schultern und sah zu Sonnberger und seiner Begleiterin hinüber. "Ich warte, bis die beiden gezahlt haben."
Rolli grinste. "Klar. Das Trinkgeld nimmst du dir noch mit. Ich kann aber auch selbst kassieren und dir das Geld zur Seite legen."
Sie schüttelte den Kopf. "Bei mir sitzt denen das Kleingeld lockerer als bei dir."
"Natürlich. Bei deinem Aussehen und deinem Charme."